Mut zur Veränderung: Mein Weg von der Kanzel ins Klassenzimmer
Unzählige Prüfungen sind es auf dem Weg zum Pfarrer. Die Hürden und die damit verbundenen, zeitlichen Invests sind hoch. Nur noch wenige … Weiterlesen
Meine letzte Amtshandlung als Geistlicher, inmitten der Sommerferien, war eine Aussegnung am Sterbebett. Zwischen zig Terminen, die ein Gemeindepfarrer so zu erledigen hat, ruft mich früh morgens das Konstanzer Klinikum an, ich solle auf die Palliativstation kommen, mein Typ werde verlangt. Sterbebegleitung und Trauergespräche, Abschiede und Aufbrüche, sie gehören zu meinem pastoralen Dienst dazu, immer wieder. In solchen Momenten bin ich am innersten meiner Berufung angekommen. Dafür stehe ich in aller Herrgottsfrühe auf. Doch dieser eine Besuch am Sterbebett hat mich besonders nachdenklich gemacht. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass ich das Arbeitsfeld wechseln werde. Eine Entscheidung, die ich mir wahrlich nicht leicht gemacht habe.
Mir hat dabei folgendes geholfen, beim Abschiednehmen und meiner Abkehr von der Idee, für längere Zeit als Gemeindepfarrer zu arbeiten. Das Fünf-Phasen-Modell der Sterbeforscherin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross aus der benachbarten Schweiz klingt erstmal dramatisch. Ich gehe es im Folgenden dennoch einmal durch, weil ich das so durchlebt habe. Und ich sage es gleich vorweg: ich bin mit der Kirche und mir im Reinen. Unterm Strich geht’s mir gut!
Als junger Pfarrer, von einer tiefen Liebe zu Gott erfüllt und dem Wunsch, den Menschen zu dienen, durchlebte ich zunächst eine Phase der Ernüchterung. Ich wurde konfrontiert mit vielen zusätzlichen administrativen Aufgaben, bedingt durch die vielen Kirchenaustritte und den daraufhin angestoßenen Strategieprozess meiner Landeskirche. Gleichzeitig stiegen die Erwartungen an den eigenen Berufsstand, nicht nur von denjenigen die in der Kirche bleiben, sondern auch denen von außerhalb, die etwa bei einer Beerdigung, sogenannten Kasualien, ganz bestimmte Vorstellungen davon haben, wie ein Pfarrer sich zu verhalten hat.
So verabschiedete ich mich ein stückweit von meinen Idealen und machte, aus der Sicht meiner Freunde, die Betriebswirtschaft studiert haben, zwischenzeitlich „etwas Vernünftiges“. Ich wechselte nach meiner Zeit im Vikariat, der praktischen Ausbildungsphase zum Pfarrer, für einige Jahre ins mittlere Management in einem größeren schweizerischen Unternehmen. Als IT-Projektleiter sammelte ich wertvolle Erfahrungen, die ich ganz sicher für meinen späteren kirchlichen Dienst verwenden wollte. Denn gewiss läuft auch eine Software-Einführung nicht völlig reibungsfrei ab. Auch dort gibt es immer wieder menschliche Widerstände in ungewohnter, neuer Umgebung.
Zurück in der Kirche vor Ort erlebte ich, wie die täglichen Herausforderungen deutlich mehr wurden. Im sogenannten Probedienst, den ersten Amtsjahren als Gemeindepfarrer wurde, anders als im Vikariat, auf einmal alles gefordert – gleichzeitig, am besten überall präsent. Ich habe lange Zeit gebraucht, um mich von dem Gefühl zu verabschieden, es allen Parteien recht zu machen, zwischendurch war ich richtig wütend, denn wo kommen wir da hin, wenn jeder nur seins sieht.
Und es ist wie verhext. Die Struktur des Pfarrberufes ist geprägt von einer großen Offenheit, einerseits, etwa für neue Gottesdienst-Formate, die ich mit Begeisterung eingeführt und mit vielen jungen wie älteren Menschen gefeiert habe – vorausgesetzt, alles Weitere läuft genauso und unverändert weiter wie bisher. Also mehr Aufgaben schultern mit weniger Ressourcen, wer kennt das nicht aus dem Büroalltag. Ich hab’s trotzdem eine Weile versucht! Und dass das gegen die Schwerkraft nicht funktioniert auf Dauer, ist eigentlich jedem klar.
Wie also weiter? Ich merkte, dass es auch im Auftrag des Herrn Selbstfürsorge braucht. So suchte ich Verbündete, denen es ganz ähnlich geht. Denn sich auf Dauer in der Opferrolle zu suhlen, ist nicht hilfreich, führt zu nichts. Zusammen mit anderen Pfarrern in den ersten Amtsjahren verfasste ich dann ein Positionspapier.
Damit wollten wir auf Entwicklungsbereiche in der Personalentwicklung aufmerksam machen. Und haben tatsächlich eine Weile gemeinsam mit der Kirchenleitung daran gearbeitet, aufs Ziel hin, dass sich wieder mehr junge Menschen vorstellen können, Theologie zu studieren und, was natürlich noch besser wäre, diesen wundervollen Beruf des Pfarrers auf Dauer zu ergreifen. In dieser Phase des Verhandelns wurden sehr viele Gespräche geführt, mit Vorgesetzten, Expertinnen und Funktionären.
„Stell‘ dich nicht so an!“ oder „Nimm‘ dich nicht so wichtig“. Solche und andere Gedanken waberten mir in diesen Debatten häufiger durch den Kopf, in Endlosschleife. Ich war zwischenzeitlich echt deprimiert. Das klingt jetzt erstmal heftig und mir ist vollkommen klar, dass Depression eine eigenständige, klinische Diagnose ist.
So schlimm war es nicht! Und doch. Aus meinem anfänglichen „Burn-On“ entwickelte sich so etwas, was andere vielleicht schon „Burn-Out“ nennen würden. Nach einem starken, engagierten ersten Jahr mit vielen Impulsen, gefolgt vom zweiten Jahr des Brennens und einem dritten, meinem letzten Jahr als sogenannter Pfarrer zur Probe, trieben mich Sinnfragen um.
„Wozu bin ich eigentlich hier, welches Ziel ist erreichbar?“ Solche und andere Gedanken piesackten mich und ich spürte im Zusammen sein mit anderen, dass ich mit meiner Frustration nicht allein war. Es gibt diejenigen, die praktisch für den Gemeindedienst geboren zu sein scheinen. Und das finde ich wirklich bewundernswert! Mit meiner Peer Group auf Fortbildungen zusammensitzend, träumte ich derweil jedoch von perfekten Arbeitsbedingungen in einer ganz gewöhnlichen Kirchengemeinde.
Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben eine echte Transformationsaufgabe vor sich. Und ich bin mir sicher, jede Pfarrerin, jeder Pfarrer wird seine persönliche Aufgabe darin finden, so auch ich. So fasste ich mir ein Herz und teilte meinem Dienstherrn mit, dass ich zum nächstmöglichen Termin eine Veränderung brauche. Familie und Freunde haben mich in dieser Phase der Neuorientierung unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin.
Seit diesem Schuljahr arbeite ich als Pfarrer im Schuldienst. Die ersten hundert Tage an der Schule liegen bereits hinter mir und ich muss sagen, ich bin ich das wirklich leidenschaftlich gerne! Lehrer – mit vollem Herzen und verlässlichem, halbem Deputat. Für meine Kinder, aber auch gemeinsame Hobbies, habe ich endlich wieder mehr Zeit. Das schätze ich abends, vor allem aber auch an Wochenenden und in den Schulferien, wo ich nicht mehr unterbrochen werde, etwa durch Bestatter am Telefon die für die nächste Beerdigung dringend einen Geistlichen suchen.
Ich unterrichte jetzt Religion, evangelisch und konfessionell-kooperativ, im Wechsel mit katholischen Kollegen in der ökumenischen Fachschaft. Und das tue ich an einem altsprachlichen Gymnasium ebenso gerne wie an einer Gemeinschaftsschule in Konstanz. Im Wechsel zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Schultypen erlebe ich das volle Spektrum: Menschen, die sich entwickeln wollen, die flexibel sind. Und das Beste daran ist, ich begegne diesen Menschen dort, wo sie tagtäglich ohnehin schon sind. Ich muss ihnen nicht hinterherrennen, denn wir treffen uns einfach so, bei der Arbeit, im Teamraum am Kopierer, im Klassenzimmer ebenso wie im Flur und dem Schulhof.
Auf dem Weg zur Schule stolperte ich neulich auf der Konstanzer Rheinbrücke über ein Graffiti auf dem Boden. Dort stand: „Habt euch lieb!“ Und ich erinnerte mich an die großartigen Worte von Jesus Christus, der gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“. Ich verstehe das als Leitmotiv für mein weiteres Wirken. In einer Welt, in der Übergänge und Veränderungen allgegenwärtig sind, habe ich gespürt, wie wichtig es ist, Menschen darin zu bestärken, mutige Schritte zu gehen. En passant habe ich gelernt, was ich oft und gerne schon anderen gepredigt habe. Ich musste es nur noch selbst beherzigen.
Dieser Essay wurde zuerst veröffentlicht hier im Südkurier am 2.12.2023/ WOCHENENDE-Magazin
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